Viva Anarchia!
Vorwärts zurück zum Anarchismus!
Wollte schon lange mal wieder ein Flugblatt zum 1. Mai schreiben. Und da man bei Welt-Debatte gerne einen Aufruf zum Kampftag der Arbeiterklasse haben wollte, habe ich mich nicht lange bitten lassen und mein Flugi zu Welt-Debatte geschickt, statt es mühsam auf dem Mariannenplatz zu verteilen. - So, gebts mir!
Für eine Linke, die diesen Namen auch verdient!
Man hört nicht mehr viel von ihr. Manchmal sitzt sie in einer Talkshow und nennt sich Oskar Lafontaine. Dann könnte man heulen und sich fragen, ob man vielleicht ihr Begräbnis verpasst hat. Aber nein: Am 1. Mai, da ist sie da, da geht sie raus auf die Straße, das ihr Feiertag.
Die Rede ist von der Linken. Linke? Welche Linke? Sind damit jene gemeint, die in der DDR ein kleines Paradies auf Erden und in der SED dessen Hausverwaltung sahen? Oder jene, die al-Qaida für eine Befreiungsguerilla gegen die US-Weltherrschaft und den faschistoiden Rollback des Islamismus für eine antikapitalistische Bewegung halten? Deren Hass auf Bonzen, Banker, Heuschrecken und Fremdarbeiter dem von Horst Mahler und seiner Nazi-Kameraden ähnelt? Sind die Linken die Leute, die Hizbollah und Hamas als heimliche Verbündete in ihrem Kampf gegen den "Zionismus" betrachten und den israelischen Schutzzaun als Beweis für einen „Holocaust“ gegen die Palästinenser anführen? Oder jene, die beim Anblick einer Hühnerbatterie mehr Pein empfinden als bei Bildern von ermordeten und vertriebenen Zivilisten in Darfur?
Man kann es drehen und wenden wie man will, es sieht nicht gut aus für die Linke. Sie ist in ihrem plumpen Antikapitalismus, in ihrem Antiimperialismus, Antizionismus, Antiamerikanismus und in ihrer nationalen Rückbesinnung oft kaum noch von der extremen Rechten zu unterscheiden. Manche Linke wenden sich daher ab und schließen sich dem Liberalismus an, in der Überzeugung, lieber auf die Kapitalismuskritik verzichten zu wollen, als sich zum Gehilfen neuer totalitärer Bewegungen zu machen.
Wenn es dabei bliebe, müsste man sicher bald das Ende der Linken als politisches Projekt verkünden. Wäre das wirklich so tragisch? Ja! Angesichts der trotz Wirtschaftsaufschwung immer desolateren Lage der sozial Abgehängten, angesichts der zunehmenden staatlichen Einschränkung individueller Freiheiten auf dem Weg zur Überwachungsgesellschaft, angesichts des Comebacks von religiösem Irrationalismus, angesichts wachsender rassistischer und antisemitischer Stimmungen ist die Linke mehr denn je gefragt.
Ihre Orientierungslosigkeit nach dem Scheitern der realsozialistischen Modelle und dem Niedergang beziehungsweise der staatlichen Integration sozialer Bewegungen ist allerdings nachvollziehbar. In welche Richtung soll es weitergehen? Alle möglichen Todgeglaubten werden da wieder ausgebuddelt: Che Guevara, Rudi Dutschke, Lafontaine oder die RAF. Nur auf das naheliegendste scheint niemand mehr zu kommen: auf die guten alten Traditionen der Anarchie.
Aber wie sollte eine Linke heute sein, wenn nicht antiautoritär und kosmopolitisch? Wofür lohnte es sich zu kämpfen, wenn nicht für die Freiheit und die Emanzipation des Menschen und seine sozialen Rechte? Auch die anarchistische Bewegung hat, wie alle anderen linken Bewegungen viel Reaktionäres hervorgebracht: eine personalisierte, dem Geldfetisch verhaftete antisemitische Zins- und Kapitalismuskritik, eine antimoderne Verherrlichung des Bauernstandes und einer auf die eigene Scholle verweisende Kritik des Zentralismus, und auch ein tendenziell völkisches Gemeinschaftsdenken. Na, und Tolstois Begründung für den Vegetarismus. Aber die konstituierenden Grundgedanken, die alle Libertären und Anarchisten teilten, sind heute mehr denn je aktuell: Freiheit für das Individuum, Kritik des Obrigkeitsstaates, des Nationalismus, der religiösen Institutionen, soziale und rechtliche Gleichheit für alle Menschen unabhängig von „Rasse“, Herkunft oder Geschlecht, Selbstverantwortung und Selbstbestimmung statt hierarchischer Herrschaft, Solidarität statt Konkurrenz.
Es sind Kategorien, mit denen man die autoritäre Rechte, die regressive Linke, den auf Ungleichheit basierenden Kapitalismus, den etatistischen Kommunismus, den antiemanzipatorischen Islamismus und den wettbewerbsorientierten Liberalismus gleichermaßen kritisieren kann.
Angesichts des erbarmungswürdigen Zustands der real existierenden anarchistischen Bewegung lässt sich der Anarchismus nicht einfach als positives politisches Programm übernehmen, aber er ist wohl der einzige Standpunkt, von dem aus man als Linker heute seine Kritik vorbringen kann. Der Anarchist Gustav Landauer hat seine Ziele so formuliert: "Die Emanzipation von staatlicher, kirchlicher oder sonstiger gesellschaftlicher Bevormundung und die Suche nach einer Möglichkeit zur Entfaltung des Einzelnen in dem seiner Meinung nach allein sinngebenden Zusammenhang der Gemeinschaft.“ Das ist die Antwort auf alle autoritären Konzepte auch unserer Zeit.
Klingt das in linken Ohren zu sehr nach Karl Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, dem kanonischen Text moderner Liberaler? Möglich, aber das liegt wohl eher an Poppers Nähe zum Anarchismus als umgekehrt. Auch die Begründer der Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entstandenen anarchistischen Zeitschrift „Die Freie Gesellschaft“ können nichts dafür, dass Guido Westerwelle heute mit diesem Titel seine Reden überschreibt. Der Liberalismus ist der Anarchismus des Feiglings, der Angst hat vor der Freiheit - und um seinen Mittelklassewagen vor der Tür. Das ist nicht verwerflich, aber es führt dazu, dass die Idee der „offenen Gesellschaft“ den Liberalen im Grunde nur als Alibi dient, die bestehende Gesellschaft, so wie sie ist, zu verteidigen. So wird das aber nichts mit der Emanzipation!
Der Anarchismus ist dagegen die „natürliche“ Gesinnung des Bohemiens, des Künstlers, des Hedonisten, des Punkrockers – und des Kosmopoliten. Auch wenn die bekanntesten Anarchisten, Proudhon, Bakunin, Silvio Gesell, eher antimoderne Kleingeister waren, die Mehrheit der wichtigen Anarchisten und libertären Denker waren durch und durch Kosmopoliten. Das hängt vielleicht auch damit zusammenhängt, dass sie zu einem großen Teil aus jüdischen Familien stammten: Gustav Landauer, Alexander Schapiro, Emma Goldmann, Rudolf Grossmann alias Pierre Ramus, Erich Mühsam, Martin Buber, Bernard Lazare. Andere, wie Rudolf Rocker, lernten Jiddisch und begaben sich bewusst in jüdisch-anarchistische Kreise, weil sie darin die Chance zu einer Internationalisierung des Kampfes für duie Freiheit sahen und eine Sprache des aufgeklärten Universalismus finden wollten.
Die jüdische Anarchistenbewegung spielte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle in der linken Arbeiterbewegung Englands und der USA, mit einer Vielzahl jiddischer Zeitschriften und Zeitungen. Auch in der Kibbuzim-Bewegung in Palästina und später in Israel war das anarchistische Denken ein konstituierendes Moment. Der deutsche gewaltfreie Anarchist Augustin Souchy und andere bereisten die Kibbuzim und erkannten darin ein Vorbild für ein freiheitliches Zusammenleben. Die Esperanto-Bewegung, einer der konsequentesten universalistischsten Großversuche, wurde von vielen jüdischen Anarchisten propagiert. Wo das staatliche und nationale Denken aufhört, öffnen sich die Weiten für einen humanen Kosmopolitismus. Wenn die Linke nicht in diesem Fundus nach brauchbaren Anknüpfungspunkten für neue Perspektiven suchen will, wo dann?
Nicht alles aus der anarchistischen Tradition taugt für die Zukunft, vielleicht ist es sogar das wenigste. Aber dieses Wenige ist das Wichtigste. Jetzt müssten sich nur noch moderne anarchistische Theoretiker finden und Anarchisten, die nicht einfach mit zwei schmutzigen Hunden und einem Anarcho-Button auf der Lederjacke vor der veganen Volksküche herumsitzen. Dann könnte man womöglich zur 1. Mai-Demo gehen und aus vollem Herzen Parolen skandieren, in denen das Wort „Freiheit“ vorkommt. Wär doch schön!
Parole: Never mind the Bollocks!
Fotos: 1) Die große, nicht die kleine Freiheit soll es sein! 2) Anarchy in the S.L.