Samstag, September 09, 2006

Plädoyer für die gegendrehende Kolumne

Nur eine Strassenecke entfernt von hier, wo ich gerade wohne, ist vor zwei Jahren Theo van Gogh abgeschlachtet worden. Es ist das ehemalige juedische Viertel Amsterdams. Ehemalig, weil die deutsche Vernichtungsmaschinerie hier geradezu perfekt funktioniert und fast saemtliche der 80.000 bis 100.000 Juden Amsterdams ausgeloescht hat. Gerade lese ich Albert Camus' "Der Fall", eine Geschichte, die genau hier in Amsterdam, und auch in diesem Viertel beginnt. Ueber die Vernichtung, "diese Gruendlichkeit, dieses planmaessige, geduldige Vorgehen" sagt Camus: "Wer keinen Charakter hat, muss sich wohl oder uebel eine Methode zulegen. Hier hat sie Wunder gewirkt, das steht ganz ausser Zweifel, ich wohne an dem Ort, wo eines der groessten Verbrechen der Geschichte begangen wurde."

Der Mord an Theo van Gogh steht in keinem direkten Zusammenhang zu den Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten, und doch muss ich sagen, dass es mich nicht kalt liess, als ich feststellte, dass der Mord mitten in diesem Viertel, nur wenige Fussminuten vom Museum fuer juedische Geschichte entfernt, stattfand, also dem Ort, der an das erinnert, was hier einmal war und also auch an das, was vorgefallen ist; warum heute ausser dem Museum und der grossen portugiesische Synagoge hier kaum etwas vom juedischen Leben uebrig geblieben ist.

Erst bei dieser Reise jetzt und der Produktion an der Holland-Sonderausgabe der Jungle World ist mir ein Aspekt bewusst geworden, der den Mord an Theo van Gogh so nachhaltig fuer die niederlaendische Gesellschaft macht. Querdenker wie er spielen in der niederlaendischen Debatte, in der oeffentlichen Diskussion eine ungemein wichtige Rolle. Jede Zeitung goennt sich eine oder auch mehrere Kolumnen, in denen freigeistige, querdenkende, antiautoritaere Autoren mehr oder weniger Narrenfreiheit haben. Quer durch alle Zeitungen - ob Volkskrant, Het Parool, Trouw, NRC Handelsblad, De Groene Amsterdammer, Metro - also unabhaengig ihrer politischen Ausrichtung, lassen sie alle unbequeme Stimmen zu Wort kommen - zum Teil voellig entgegen der Redaktionslinie. Die Kolumnen sind eine ganz wichtige Institution der politischen Debatte, die Kolumnisten sind in der ach so "gezelligen" Puppenhauswelt der Niederlaender wie ein Sturm der geistigen Freiheit.

Theo van Gogh war so einer. Auch sein Freund Theodor Holman, von dem wir eine Kolumne in der aktuellen Jungle World veroeffentlicht haben, ebenso Ebru Umar, die wir fuer diese Ausgabe interviewt haben. Sie unterhaelt diverse Kolumnen im Wirtschaftsradio, in der Gratis-Bahn-Zeitung Metro ebenso wie in der Hausfrauen-Postille Libelle. Auch Ayaan Hirsi Ali gehoerte, auch wenn sie, soweit ich weiss, keine Kolumne betrieb, zu diesen unbequemen Querdenkern. Es gibt noch viele andere. Sie wechseln sich in den verschiedenen Zeitungen ab, sie beziehen sich aufeinander, sie betreiben eine eigene Debatte gegen den Mainstream - mitten im Raum des Mainstreams. Dass sie alle unter anderem islamistischen Fundamentalismus kritisieren, liegt daran, dass sie jeden Fundamentalismus kritisieren, dass sie eben antitotalitaere Freigeister sind - und "gegendrehend", wie man hier sagt. In der aktuellen Ausgabe des Groenen Amsterdammer zieht Holman ueber die Christdemokraten und ihre Ueberlegungen, das Madonna-Konzert verbieten zu wollen, her.

Diese ganz besondere Bedeutung von Meinungs-Kolumnen in den Niederlanden finde ich sehr spannend. Wie ist es in Deutschland? Die gegendrehenden Kolumnisten, die Querdenker, muessen sich an eine Redaktion verkaufen, wo ihnen der Wind aus den Segeln genommen wird, oder sie betreiben Blogs, oder versammlen sich dort sogar (wie bei der Achse des Guten). Andere schreiben in Autorenblaettern wie der konkret - und erreichen dort ausschliesslich eine kleine Gemeinde, die ihnen zuhoert, die mit dem Quergedachten rechnet, und auch schon immer vorher weiss, wie bitteschoen querzudenken sei. Doch genau das Unberechenbare macht die Querdenker aus. Sie gehoeren nicht auf einen Querdenker-Marktplatz, wo man zum Querdenkergucken hingeht. Sie gehoeren, so wie es in Holland der Fall ist, in das Modeheftchen, in die liberale Wirtschaftszeitung, der linksalternativen, der sozialdemokratischen oder christlichen Zeitung, ueberall sollen dich Gedanken anspringen, die dich aus der Ruhe deiner Gewissheiten reissen. Es kommt nicht darauf an, dass diese krummen Gedanken oder steilen Thesen, diese provozierenden Ansichten oder frechen Polemiken sich alle als historisch richtig herausstellen. Es kommt darauf an, das Denken in Bewegung zu halten, der bestaendig, von jedem einzelnen ganz bewusst inszenierten Selbstvergewisserung den Arm umzudrehen.

Taete uns in Deutschland so eine offene Debatte nicht auch gut? Braeuchten wir nicht auch eine Kultur von Querdenkern, die einem an unvermuteter Stelle, wenn man nicht damit rechnet, einen gedanklichen Kinnhaken verpassen, der uns neu ueber dieses oder jenes nachdenken laesst? Vielleicht, aber da, wo Leser sofort ihr Abo kuendigen, wenn sie mit einem ihrer Meinung nach suendigen Gedanken konfrontiert werden, ist die Gesellschaft wohl nicht reif dafuer: Oho, der Broder schreibt doch im antisemitischen Spiegel, der ist ja wohl nicht kosher, hoer ich Leute rufen, die selbst alles andere als kosher sind. Oho, die Jungle World goes Herzinger kreischen andere, wenn sie meinen in dieser oder jenen Zeitung duerften nur gesinnungsgepruefte Wellenreiter das Maul aufmachen. Oho, der Kunstreich in der taz, Skandal, sagen Leute - obwohl er der taz in seinem Kommentar so ueberdeutlich eingeschenkt hat. Bittermann schreibt in der jungen Welt, den setzen wir auf den Index, wird da beschlossen. Oho, der Ebermann steht in der konkret neben der Wagenknecht, der ist sich ja fuer nichts zu schade. Der Gremliza, hat den nicht die SED bezahlt, dem muss ich nicht zuhoeren, argumentieren einige. Der von der Osten-Sacken war bei dieser oder jenen Veranstaltung und darf trotzdem hier oder dort schreiben?!, empoeren sich andere. usw, usf. Ich will damit nicht sagen, dass ich es zum Beispiel gut finde, dass Bittermann in der rot-braun-extremen jungen Welt schreibt, ganz im Gegenteil, aber deshalb kann man ihn doch trotzdem zur Kenntnis nehmen! Um mehr geht es gar nicht!

Aber ich kenne das Phaenomen auch andersrum: Autoren, die nicht mehr in dieser oder jener Zeitung schreiben wollen, weil dort dieser oder jener andere Autor geschrieben hat, weil dort mal diese oder jene falsche Meinung zu lesen war. Ich stehe immer wieder reichlich fassungslos vor diesem ganzen Bekenntnis-Quatsch und jetzt, wo ich taeglich niederlaendische Zeitungen lese, denke ich, wow, das waere bei uns nicht denkbar. So ein Kommentar in der Jungle und wir waeren die Haelfte der Leser oder Autoren los - und das gilt fuer die diversen politischen Richtungen, in die das gehen kann.

Viel zu viele Leute wollen nicht angeregt und aufgeregt, sie wollen bestaetigt werden, sie wollen dass ihre Meinung multipliziert wird (was ja gut ist), aber keinesfalls eine abweichende (was fatal ist).

Theo van Gogh war so ein Querdenker, der in Deutschland keinen Platz gefunden haette. Ein Gegendrehender mit vielleicht oefters falschen, aber - und das ist viel wertvoller, als immer "richtig" zu liegen - jederzeit verstoerenden Ansichten. Er haette vermutlich nur ein Blog betrieben. Sein Platz in den Niederlanden war aber auch nicht komfortabel, eine Gratis-Zeitung vor allem, mit wenig, aber immerhin fuer so ein Projekt doch beachtlichem Niveau, die jeden Tag in den Zuegen und Strassenbahnen ausliegt, und die also eine ungeheure Auflage hat. Aber am Ende war fuer van Gogh auch in Holland kein Platz. Ebru Umar wurde im April auf der Strasse angegriffen, Hirsi Ali aus dem Land geekelt. Schraege Kolumnen aber wuchern weiter wild durch die Medienlandschaft, staendig springen sie dich an, wenn du gar nicht damit rechnest, sie hauen dir auf die Fresse und sagen dir: Die Idylle truegt!
Und das gilt ueberall und bei jedem - auch und gerade im Hinblick auf die eigene geistige Idylle.

Und um noch einmal auf Camus und das Amsterdamer Judenviertel hier zurueckzukommen, vielleicht mal diese These: Wer keine Methode hat, sollte sich Charakter zulegen! Charakter, wie ihn diese niederlaendischen Kolumnisten repraesentieren, ist auch eine Antwort auf, bzw. das Gegenstueck zur moerderischen Nazi-Ideologie.

7 Comments:

At 10:24 PM, Blogger empty rooms said...

leider hast du wahrscheinlich recht. ich hab die dutchies auch so kennengelernt: man lässt erst mal 5 jahre lang jeden seine meinung äussern, bevor man eine entscheidung trifft (sehr sympatisch).

implizit scheint das die these zu bestätigen, der deutsche an sich (was immer das sein soll) ist ein autoritärer faschist (ich wünsch euch mehr leser wie mich).

 
At 2:45 AM, Blogger saltandvinegar said...

also ivo, wenns danach ginge, wer mal wo was geschrieben hat, dann duerfte man dich auch nicht mehr lesen. geschweige denn kommentieren :-)
gute nacht!

 
At 3:46 PM, Blogger Ivo Bozic said...

@empty: ob man so ne urteile ueber DIE deutschen faellen sollte, weiss ich gar nicht. muesste man dann ja auch mit allen andren "voelkchen" in relation setzen/ vergleichen. da fehlt mir der ueberblick... aber schoen ist das nicht, mit diesen deutschen, das steht wohl fest...

@salt: aehm da hast du wohl recht. womoeglich habe ich das alles nur deshalb so empatisch aufgeschrieben... ;-)

@scrupeda: gebe zu, der schlusssatz ist etwas gewagt und stimmt so auch nicht, aber im sinne dieses postings sollte es ja auch nur ein gedankenanstoss sein... :-D

@jagila: sag das mal der bahamas... lol

 
At 9:32 PM, Blogger empty rooms said...

@henchan: wer, der empty oder *der deutsche*?

@ivo: also urteilen (oder philosophieren) wollt ich gar nicht. Wenn du sagst, wenn ihr einen *falschen* kommentar druckt, seit ihr gleich etliche abonennten los, spricht das nicht grade für einen teil der leserschaft... (nebenbei gesagt halt ich die these, der deutsche neige zum faschismus, wenn man ihn nur liesse, für nicht so überzeugend)

schieb ich mal noch nen inhaltsleeren gemeinplatz hinterher: es gibt halt über die welt verstreut leute, mit denen man eher nichts zu tun haben will, und andere, mit denen man gut klarkommt.

 
At 12:12 AM, Blogger Ivo Bozic said...

@jagila: missverständnis! das war gar nicht gegen die bahamas gemünzt. im gegenteil, die gehören durchaus zu den querdenkern im lande. ich meinte nur, frag mal die, was die über die jungle denken, von wegen antideutsche linie und zu wenig quer zum antideutschen gedacht usw.

 
At 8:52 PM, Blogger empty rooms said...

wers noch nicht kennt: bernhard schmid und "die antideutschen projektionen" (http://www.trend.infopartisan.net/trd7806/t487806.html).

darüber kann man streiten (vielleicht an anderer stelle), allgemein find ich seine artikel in der jungle und auf telepolis faktenreich und interessant.

und dass er an sozioökonomischer kritik festhält find ich auch ok (solang er nich in der jungen welt endet, oder dort hin geekelt wird...)

 
At 5:17 PM, Blogger Ivo Bozic said...

hm, jagila, es ist ja schön, dass du so offen bist, aber ich kann dir sagen, dass sich ständig leute wegen kleinster dinge aufregen. die debatte um die wm-deutschland-fahnen und den "neuen nationalismus" zb. hat uns mal wieder ein paar abos gekostet. ich könnte dir jede woche auflisten, worüber sich menschen mokieren. und zwar nicht in dem sinne, dass man sich über bestimmte meinungen/ansichten aufregt, was ja gewollt ist, sondern darüber, dass in der jungle so was stehen darf... aber andererseits, stimmt wohl, sind jungle-leser/innen offensichtlich doch einiges gewohnt und inzwischen etwas abgehärtet. zum glück! vermutlich haben wir die besten, offensten, interessiertesten leser/innen, davon gehe ich eh aus... ;-)

 

Kommentar veröffentlichen

<< Home