Grass und ich
Spätestens seit diesem Sommer weiß jeder, dass beim Häuten einer Zwiebel unangenehme Gerüche entstehen. Dass der Gestank aber bis zu meinem Elternhaus weht, das war mir bisher nicht bewusst. Denn während alle Welt sich über die SS-Story des Literaturnobelpreisgewinners Günter Grass echauffiert, werden die anderen Anekdötchen aus seinem Buch völlig ignoriert. Vermutlich zu Recht.
Für mich allerdings war es interessant zu erfahren, was Grass ab Seite 279, wo die meisten Leser vermutlich bereits längst eingeschlafen sind, zu berichten hat. Denn dass er sich 20jährig, nach der Kriegsgefangenschaft, im Winter 1947 nach Düsseldorf aufmachte, war mir neu. An die Kunstakademie wollte er dort, doch die hatte wegen Kohlenmangels geschlossen. Dabei wäre Grass doch so gerne Bildhauer geworden. Er wählte also den 2. Bildungsweg und heuerte beim Steinmetz Julius Göbel am Werstener Friedhof an. Wer würde behaupten wollen, dass die Fabrikation von Grabsteinen keine Kunst sei?! Und das entspricht ja auch ungefähr dem Verhältnis von Grass-Romanen zur Literatur.
Jedenfalls befindet sich der Werstener Friedhof in Wersten, direkt da, wo ich meine Jugend zugebracht habe, unser Hauseigentümer arbeite dort als Gärtner. Nun stelle ich mir also vor, wie auf dem mir bestens bekannten Friedhof, wo ich so oft spazieren gegangen bin, der junge Grass Grabsteine polierte und in der Mittagspause Futter für die Ziege „Genoveva“ auftreiben musste. Nach der Arbeit fuhr er dann mit der Straßenbahn zu seiner Unterkunft, einem Zehnbettzimmer der Caritas.
Irgendwie konnte sich Grass zwischen Blumengestecken und Marmorblöcken jedoch vormachen, er sei ein Künstler. Hätte er auf seinen Vater gehört, wäre uns vielleicht einiges erspart geblieben. Der nämlich wollte seinem Sohn eine Lehre in der Verwaltung von Rheinbraun schmackhaft machen. Der Vater, Hilfspförtner im Kraftwerk Fortuna-Nord, hatte ihm dort bereits eine Lehrstelle besorgt. Aber der 19jährige Günter erklärte: „Ich als Bürohengst? Lächerlich.“
Wer nun die ganze Zeit denkt: Steinmetz Göbel, Steinmetz Göbel, das kommt mir irgendwie bekannt vor, der liegt nicht falsch. Oskar, der Blechtrommler, geht ebenfalls bei einem Steinmetz in die Lehre geht, der zwar nicht Göbel, aber immerhin Wöbel heißt. Überhaupt erscheint es mir immer mehr so zu sein, dass das gesamte Grass-Werk mehr oder weniger eine geringfügige Abwandlung seiner Lebensgeschichte ist. Wohl deshalb ist es auch so langweilig, dass eine kleine SS-Geschichte noch den größten Thrill hat. Eine Geschichte vom Werstener Friedhof lässt sich wohl kaum verkaufen, schade eigentlich.
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